Das Mosaik von Kunst, Kultur und Religion
In abgelegenen Gebieten bleiben oft nur Alteingesessene. Aber das malerische Bergdorf Illegio in Carnia erweckt Hoffnung. Die Einheimischen sind eng in ein internationales Kunst- und Kulturprojekt mit religiösem Schwerpunkt eingebunden. Über ein Drittel junger Menschen, Erfindergeist und ein starker Zusammenhalt sind tragende Säulen. So manche Traditionen in diesem 350-Seelendorf reichen bis in die Keltenzeit zurück.
Recherche und Text: Bianca Krammer & Ute Mörtl, Fotos: © Bianca Krammer, Komitee Sankt Florian, Sommer 2019
Die Zivilisation mit den Schloten von Tolmezzos Industrie scheint nach wenigen Kurven auf der steilen Bergstraße weit weg zu liegen. Vor dem Auge des Betrachters eröffnet sich eine imposante Kulisse mit einem Schwemmkegel, Wäldern, brisanten Lichtstimmungen, bis sich nach acht Kilometern das Panorama weitet. Gewisse Widersprüchlichkeiten sind Teil dieser Welt hier oben auf 576 Meter Höhe. Der erste Blickfang: das weiße Gotteshaus Sankt Florian. Die Taufkirche thront auf einer Anhöhe, die schon die Kelten, Römer und Langobarden eroberten. Vorahnung macht sich breit. Hier hinterließen diverse Kulturen nicht nur Spuren, sondern stellten diese Dorfgemeinschaft auf eine harte Probe. Das Bergvolk musste sich immer wieder anpassen, um zu überleben. Heidnische Rituale wurden teilweise christianisiert, aber auch Neues wurde bei der Tür hereingelassen. Trotz starker Rückschläge, seien es Plünderungen, Arbeitslosigkeit oder der Rückgang der Landwirtschaft, alle halten bis heute zusammen. Illegianer zu sein, bedeutet standhaft Teil einer Welt anzugehören, die es nur mehr hier oben gibt.
Es ist erstaunlich, dass hier Internationalität vorhanden ist, so auch durch ein Kunstprojekt mit überregionalem Ruf. Rund 40.000 Besucher kommen pro Saison. Internationale Bezüge schafften ebenso Emigration und Heimkehr. Die meisten Frauen bestellten die Felder im Alleingang, während die Männer in der Donaumonarchie das Geld verdienten. Später wendete sich das Rad der Zeit. Die Frauen gingen zumeist als Haushälterinnen ins Ausland.
Heute stehen die Mühlen still. Doch wenn immer sich eine Touristengruppe ankündigt, öffnet der Müller Firmino Scarsini die Pforten zu seinem kleinen Reich, der Mulino dal Flec. Dann plätschert das Wasser aus der Touf-Quelle hinunter über das Mühlrad des Museums.
Neben dem Nachnamen Scarsini ist Iob der zweithäufigste. „Trotz der Armut waren wir reich“, schildert die 75-jährige Dolores Iob, die als Gedächtnis des Ortes gilt. Sie sitzt mit alten Fotos beim Mühlgang und beschreibt wortgewandt das Bauernleben mit all seinen heidnischen Prozessionen wie dem Totentanz. Zwischen erstem und zweitem November wird für die Verstorbenen Brot auf den Tisch gelegt und Wasser aus dem Brunnen geholt. Aus der Kriegszeit erzählt die ehemalige Lehrerin vom Anbau auf den Feldern: „Früher lebten wir von Mais, Kartoffeln, Bohnen und Hafer. Es gab weder Streit bei der Arbeit noch bei der Teilung der Ernte.“
Die Fresken an den Steinhäusern am Mühlenweg geben Einblicke in die einstige bäuerliche Arbeitswelt. Heute bestellt nur noch ein junger Aussteiger die wenigen Felder. Die Jungen arbeiten im Tal. Oben wird mit viel Leidenschaft und Stolz ehrenamtlich die Mostra unterstützt. Dieses Engagement der Einheimischen wird sehr geschätzt: an der Kasse, beim Regeln des Verkehrs, beim Reinigen, bei Reparaturen, sogar die Blumenpracht braucht Pflege. Wichtig ist der Dialog. „Sie gehen sicher in die Mostra“, lautet eine häufige Anrede gegenüber einem Touristen. Auf dem Weg zu den europäischen Meisterwerken ins ehemalige Pfarrhaus kann es schon vorkommen, dass ein Illegianer seine Lebensgeschichte in nur wenigen Worten preisgibt. Eine dieser älteren Frauen spaziert regelmäßig bis zum Kiosk, um sich die Kunstbücher anzusehen. Doch was gibt es hinter der Schwelle des Eingangs zu erkunden?
„Maestri“ beschäftigt sich mit Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Kunst, Pädagogik, Erziehung, Religion und Philosophie. Die treibende Kraft sind zwei Geistliche im Doppelpack, Pfarrer Don Alessio Geretti und Priester Don Angelo Zanello. „Uns war von Beginn an klar, dass wir etwas schaffen möchten, das Illegio überleben lässt und Hoffnung für andere Bergdörfer bietet. Kunst dient der Horizonterweiterung. Im Leben ist es wichtig, die Fenster und Türen zu öffnen, um die Wahrheit, die Schönheit und das Gute zu sehen. Der Besuch der Ausstellung kann ein Zündfunke auf dem Weg zum Glauben sein“, so Hauptinitiator Geretti. Die persönliche Atmosphäre während der Führungen ist sein wesentliches Anliegen.
Überraschungen inklusive. Gleich im ersten Raum thront eine von Studenten gefertigte Michelangelo-Skulptur Moses. Warum wird er immer mit Hörnern abgebildet? Claudia Baumgardt, deutschsprachige Kulturbegleiterin der Ausstellung, ruft in Erinnerung: „Die Hörner sind ein Übersetzungsfehler des Heiligen Hyronimus. Dieser übersetzte Ende des vierten Jahrhunderts die Heilige Schrift aus dem Griechischen und Hebräischen ins Lateinische und verwechselte Lichtstrahl mit Goldene Hörner“. Fehlinterpretationen werden schnell zur vermeintlichen Wahrheit. Während ihrer Führung stellt Baumgardt aktuelle Bezüge, vor allem zur Ethik, Philosophie und zum Glauben her.
„Nicht die Gabe des Gläubig-Seins an sich, sondern das Bedürfnis nach einer spirituellen Antwort auf Lebensfragen existiert im Herzen von jedem Menschen. Wenn wir die Wahrheit nicht ergründen, erlauben wir, dass die Ungerechtigkeit siegt“, so Geretti.
Die Ausstellung schließt mit dem Mosaik „Der Baum Jesu“, einer Imitation vom obersten Teil des Kirchenfensters der Kathedrale Notre Dame von Chartres aus dem 12. Jahrhundert. Es symbolisiert die Transzendenz mithilfe des Glaubens. Illegio ist ebenso ein Mosaik, das sich immer wieder neu zusammensetzt. Begegnungen zwischen Gelehrten und Schülern, Einheimischen und Besuchern, die Wechselwirkung von Licht und Schatten, sie alle hinterlassen Spuren in den Herzen. Erst wenn Geschichte beleuchtet wird, wird sie facettenreich, sichtbar und greifbar.
Weitere Informationen:
Ausstellung: 12.05. bis 06.10.2019 (jährlich gibt es eine neue Ausstellung)
Extrapreis für Gruppen ab 20 Personen: nur 9 Euro
Voranmeldung für deutschsprachige Führung ab ca. 10 Personen unter: 0039 349 199 6631
Parkplatz: Biegen Sie sofort nach der Ortstafel links in die via Cristoforo Colombo ein.
Sonntagsmesse: 9:30
Mühlenmuseum, Reservierung: +39 (0)433 48 77 04
Übernachtung in Illegio: Cjase in mont, +39 (0)334 7789019
Mehr unter: illegio.it