entstanden auf einer Zugfahrt im Frühling 2018
Das Pochen in meiner Brust war nicht zu stoppen. Es gab in letzter Zeit Momente, da wollte ich aufhören zu hören, zu schauen, zu fühlen. Die Sehnsucht nach meinem Ex-Freund lässt nicht nach. Habe trotz Liebe vieles nicht getan. Und vor allem auf mich vergessen. Ich verlor schleichend ein Stück meiner Sehkraft! Habe vieles nicht wahrgenommen, nicht wahrhaben wollen. Habe mein Innerstes überhört. Ich denke nach, doch spüre ich, was passiert ist? Feststeht: wir kamen vom Gemeinsamen ab. Beide blieben wir auf der Strecke. Bis es nicht mehr vorwärts ging. Die Buntheit wich dem Vorherrschen von Schwarz oder Weiß, bestenfalls Grau. Aber kein Elegantes.
Der Zug, der mich zu einem Dialog mit einer Freundin bringen soll, rollt an. Meine offizielle Heimat liegt hinter mir. Während nun auch der Kopf pocht, bremst der Zug plötzlich ab. Mitten in einem Tunnel. Mein Oberkörper bewegt sich schlagartig gegen meinen Willen, der Kopf knallt aufs Leder des Sitzes. Technisches Gebrechen, kann rasch behoben werden. Soweit ich das richtig verstehe. Die Abteiltür wird von einer Frau mit zwei Kleinkindern aufgerissen.
„Permesso? Darf ich? „, fragt sie. „Natürlich“, antworte ich ein wenig überrascht. Die zwei Kinder bewegen sich wackelnd und vorantastend ins Abteil, jedes an einer Hand ihrer Mama. Ihre Augen sind neugierig, der Blick vorsichtig. Sie stehen und schauen. Ich lache sie an und begrüße sie auf Italienisch. Ich befinde mich in einem der Tunnels kurz nach der Grenze am Weg nach Trieste. „Cuckooo“, ruft eines der Kinder und zeigt ins Dunkel. Das andere versteckt sich hinter vorgehaltener Hand. Erst als das Licht wieder angeht, bemerke ich, wie ähnlich sich die beiden sind. Zwillinge! Ein Bub und ein Mädchen. Ich komme mit der jungen, sympathischen Mutter unweigerlich ins Gespräch. Wir tauschen uns lebhaft über das Zwillingsdasein aus, zumal auch ich ein nun erwachsener Zwilling bin. Neben „Cuckoo“ fallen ein paar mir unverständliche Wörter auf. Ich erfahre, dass die Mutter aus Rumänien stammt, der Vater Italiener ist, aber unter der Woche in Österreich arbeitet. Sie sind vor kurzem in die Nähe von Udine gezogen, weil sie hier Anschluss zu seiner Familie finden wollen. Es zieht mich ein wenig in die Lebensgeschichte dieser Frau hinein.
Im kleinen Abteil bewegt sich etwas. Der Zug steht noch immer. Ich gebe den Kindern je eine kleine Schokolade. Zuerst frage ich die Mama um Erlaubnis. „Permesso?“ Erst nach vorsichtigen Erkundungsschritten und beobachtenden Blicken greift eines der Kinder nach der Schokolade und bemüht sich, die Verpackung alleine aufzureißen. Ich bin erstaunt über die Ruhe der Zwillinge und die Geduld der Mutter, die mit mir offen über ihr Leben spricht. Während sie kurz telefoniert, nehme ich einen kleinen Ball aus meinem Rucksack. Vorsichtig beginnen die Dreijährigen mit mir Ball zu spielen. Fast wie in Zeitlupe. „Faszinierende Wesen“, denke ich. Wir setzen parallel unser Erwachsenen-Gespräch fort. Der Austausch kreist neben sehr direkten Fragen auch um die Gratwanderung der Erziehung zweier Individuen, die in derselben Stunde das Licht der Welt erblickten. Eines davon durch einen Notkaiserschnitt. Das Gewand der beiden ist gleich, nur ein Pulli ist dezent blau, der andere pastell-rosa gefärbt. Aus dem Mund der Kinder kommen ein paar italienische und dann wieder seltsame mir unbekannte Wörter. Plötzlich fällt wieder Licht ins Abteil.
Die Mutter versucht ihren Zwillingen liebevoll klar zu machen, dass ich kein Rumänisch verstehe. Die beiden wirken erstaunlich selbständig und setzen jeden Schritt selbst. Die Mutter meint, sie gehe viel mit ihnen spazieren. Es sei wichtig, in der Natur zu sein. Wegen der Ruhe. Con calma. Stazione Udine. Wir alle müssen umsteigen. Unsere Wege trennen sich hier.
Beim Aussteigen verliert ein Kind den Ball, der für den Hund meiner Triestiner Freundin bestimmt gewesen wäre. Die Kleinen sind enttäuscht über den Verlust und eines der Kinder schluchzt. Ich neige mich hinunter, um zu sagen: „Euer Ball ist für einen Hund im Zug geblieben. Dieser freut sich riesig.“ Im Nu hört das Kind auf zu weinen. Die Mutter ist sichtlich erleichtert und wiederholt die Geschichte mit dem Hund. Da ich es eilig habe, verabschieden wir uns und ich sitze schon im nächsten Zug. Ich winke der Mutter mit ihren beiden Kindern noch zu. Behutsam, je eines an der Hand, gehen sie die Treppe hinunter zu ihrem Gleis.
In Gedanken versunken rolle ich weiter. Die Abteiltür öffnet sich. Der Schaffner möchte mein biglietto sehen. Mist! Ich habe ganz vergessen das Ticket am Bahnsteig zu entwerten. Kein Spielraum für Diskussion. Es existieren eben Regeln, signora! Ich bezahle unwillig die Strafe.
Das Leben spielt nach eigenen Regeln. Nach langer Zeit bin ich wieder in Trieste Centrale. Es bleiben ein paar Stunden alleine, bevor ich meine Freundin wiedersehe. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und ich spüre die Wärme des hier bereits aufkommenden Frühlings. Manchmal dürfen auch Große klein sein, in kindlicher Fantasie versinken, denke und spüre ich. Auch wenn dies manchmal einen Preis kostet. Che biglietto caro.
Gia vedo il mare. Ich rieche das Meer und laufe ihm entgegen. Mitte Februar die Zehen ins eiskalte Wasser einzutauchen, ist ein erfrischender Schritt. Ich bin um eine Strafe leichter und um eine Erkenntnis schwerer: Manche Regeln kreiert man selbst. Und manche Versprechen gibt man sich selbst zu früh. Das merkt man erst in schlechten Zeiten. Ich atme tief ein – in all der Meeresluft. Con calma. Ich lege eine Hand aufs Herz und höre es schlagen. Und bin wahrhaftig, wahrhaftig hier und neugierig, was mein Tag in Trieste aus mir hervorruft. Alzati?! Bevor ich in die Stadt schlendere, bleibe ich noch (m)ein wenig am Meer. Ich höre ihm zu. Es rauscht Welle für Welle vor sich hin. Heute sanft, ohne der Wucht der Bora. Ich werde noch Dinge sehen, die ich zuvor noch nicht sehen konnte. Lo sento.