Der Weg der Ameisen

entstanden nach einem Spaziergang

Niemand kennt Ameisen ruhend. Emsig laufen sie in alle Richtungen, ohne frontal zusammenzustoßen, ohne Schädel- und Hirntrauma und mit hoher Geschwindigkeit und zumeist mit großer Last am Rücken. Wirft man ihnen ein winziges Krümelchen auf den Boden, kümmert sich sofort ein rasch organisierter Aufräumtrupp ums Wegschaffen. Doch wohin wird das gebracht? Dient alles nur einem Zweck? Den Lebensraum zu erhalten? Erwachsen schaue ich auf den Ameisenhügel herab. Und stelle mir Fragen, die mit Effizienz zu tun haben. Währenddessen die kleine Lu sagt: „Schau mal, Tante! Wie hoch die hinaufklettern!“ Sie schaut einem hohen Ameisenberg entgegen, der ihr – vom Weg aus gesehen – bis zu den Schultern reicht. Ein Konvolut an Nadeln, Ästchen, Krümeln, und Ameisenjause ragt vor unseren Augen empor. Ich habe mich hingekniet, um gemeinsam mit meiner Nichte das Werk der flinken Insekten zu bestaunen. Selbst tote Ameisen werden sofort weggeschafft. Doch das Wohin kann nicht nachvollzogen werden. Zu viele Wege kreuzen sich hier. Wir versuchen immer wieder erneut, den Weg eines einzigen Brotkrümels zu verfolgen, das gehört schon zu unserem Fütterungsritual. „Tante, sind die Ameisen eigentlich auch traurig, wenn die die Toten so schnell wegtragen?“ „Ich denke schon, dass sie nachdenken und trauern, währenddessen sie die Verstorbenen an den vorgesehenen Ort schaffen,“ versuche ich die Kleine zu beruhigen. Und denke insgeheim, dass die Ameisen vielleicht nicht so fragil sind wie der Mensch, der alles hinterfragt. „Tante, streiten die manchmal auch, wer schneller ans Ziel kommt?“ Ich weiß keine Antwort und sage: „Ich glaube, die ticken anders als wir Menschen.“ „Zum Glück!“ ruft Lu. Und als ich ihr dabei zusehe, wie sie ganz behutsam die restlichen Krümel auf dem Ameisenhügel verteilt, erinnere ich mich an ein Ritual aus meiner Volksschulzeit. Der eine rubbelte so lange am Arm des anderen, bis dieser rot wurde und brannte. Dann rief der Rubbelnde stolz: „Ameisenstraße!“ und vergewisserte sich nochmals, ob das wirklich richtig brennte – so als wären zigtausende Ameisen mit ihrem Gift über den Arm spaziert. Währenddessen man die Ameisen förmlich auf der Hand krabbeln spürte, drehte sich der Übeltäter um und rannte davon. Und jetzt wird mir erst bewusst, wie geborgen und behütet die Kindheit meiner Nichte abläuft, im Vergleich zu meiner eigenen. Kinder sind fast schon zur Rarität geworden. Wir setzen uns auf eine nahe Bank und lassen uns die Sonne ins Gesicht scheinen. Mit Blick auf den Ameisenhügel. „Was machen die denn, wenn alles aufgeräumt ist?“, will Lu wissen. „Haben die dann Ferien?“ Ich muss inniglich lachen, so richtig aus meinem Bauch heraus. Meine ganzen Erwachsenenfragen sind verflogen. Wir lachen beide, ohne auf eine Antwort zu warten. Denn kaum haben wir uns beruhigt, prusten wir schon wieder los. Tut das gut! Ich erzähle Lu, dass Ameisenhügel nur an ganz bestimmten Orten, wie an Lichtungen entstehen. „Die Ameisen spüren sicher ganz viel. Aber denken nicht nach“, meint Lu. Dieser Satz der Kleinen beruhigt wiederum mich. Gerade heute, da ich gleich zwei Entscheidungen bezüglich Jobwechsel und neuem Wohnort treffen sollte, spricht die Kleine diese Worte. „Sie denken nicht nach“, wiederhole ich, „sie spüren einfach. Ja, das ist es wohl“, meine ich in mich gekehrt. Am Heimweg beschließen wir, uns ganz auf die Ameisen zu konzentrieren. Wir wollen keine einzige zertreten und kehren still und beseelt nachhause zurück. Nachhause. Wo immer das ist.

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